Die 100 km von Biel – Laufbericht von Andreas Gelhaar

100km von BielDie Idee, mich nach nunmehr 22-jähriger Absti­nenz von so einem lan­gen Kanten wie­der mal einer derartigen Herausforderung zu stellen, kam mir das erste Mal nach dem läuferisch sehr runden Jahr 2014. Für ein derartiges Vorhaben die Trainingsvorberei­tung für den langen Renn­steig mit zu nutzen, darauf hatte mich Andrea Nißing aus Dinsla­ken gebracht, mit der  ich 2012 ge­meinsam meinen 30. Super-Marathon gelau­fen bin und die das auch schon mit Erfolg so praktiziert hat.  
Und da auch das Laufjahr 2015 von Januar bis Mai absolut rund lief, gab es keine Ausreden mehr diese Sache nicht mal wieder anzugehen. Nach meinem Jubiläum 120. Ma­rathon im April in Hamburg stand, dieses mal aber wirklich zufällig, ein weiteres ins Haus: der 40. Ultra. Diesen im Rahmen ei­ner „der“ 100 km-Läufe bei seiner 57. Auflage zu absol­vieren, dass hielt ich bei dieser run­den Zahl von Teilnahmen als angemes­sen. In den 6 Wo­chen zwischen Rennsteig und Biel wurden bis eine Woche vor dem Ereig­nis noch drei lange Trainingsläufe über 50, 60 und 42 km absol­viert, sodass ich dann kurz vor dem Online-Mel­deschluss angesichts des bestehen­den Trai­ningszustandes recht beru­higt meine Teilnahme anmelden konnte. Den legendären Spruch „Einmal musst du nach Biel“ hatte ich allerdings schon vor 25 Jahren in die Tat um­gesetzt. Damals ganz durch die Euphorie geprägt, die sich für uns DDR-ler aus den neuen läuferi­schen Möglichkeiten nach dem Mauerfall ergeben hatten. Und da sei an dieser Stelle an eine ganz große Geste erinnert, die 1990 von einigen Veranstaltern, und so auch von de­nen in Biel, praktiziert wurde: Startgebühr, Quartier und Verpflegung wurden uns, die wir zu diesem Zeitpunkt noch keine D-Mark in der Tasche hat­ten, komplett gesponsert!!! Während wir da­mals mit dem Wartburg von Wolfgang Flohr, dem Erfinder der 7 Seen Wanderung und ebenso wie mein Vater Finisher über die 100 km, an­reisten, entscheide ich mich diesmal für die komfortablere Vari­ante: mit dem Flieger nach Zü­rich und Mietwagen bis Biel. Da der Start am Freitag um 22 Uhr ist und ich mir keinen Stress machen will, reise ich schon am Donnerstag an. Gegen­über vor 25 Jahren hat sich der Charakter der Veranstaltung verän­dert. Im Rahmen der Bie­ler Lauftage werden nun auch noch Erlebnislauf, Halbmarathon und Marathon als Nachtlauf angeboten. Und eine weitere, gar nicht so gute Neuerung beinhaltet, dass man sich auf der Königsdisziplin auch das vor­zeitige Ausscheiden als bewältigte Teil­distanz beurkunden las­sen kann. Und die letzte Mög­lichkeit dafür ist bei knapp km 80! Es ist bullig warm in Biel und die kurzfristige Wetterprog­nose verheißt nichts gutes für den Tag des Er­eignisses: Wär­me­gewitter am Abend und dann Regen bis 2 Uhr.
Der Veranstalter ist schon leicht in Panik und spielt Notfallszenarien durch. Aber zum Glück haben sich die Meteorologen geirrt und es löst sich alles in Wohlgefallen auf. Es bleibt alles trocken und mit der untergehenden Sonne verzieht sich auch die größte Hitze. Noch ein Foto vor dem Start und dann geht es punkt um 22 Uhr mit einem mächtigen Böller in die Nacht.

 Andreas Gelhaar  Vor dem Start

Ich habe mich wieder für das Mitnehmen des Fotoapparates entschieden. Das Finishershirt des Rennsteiglaufes 2015 hat heute Premiere. Es geht zunächst ein paar Kringel durch Biel, wo die Laufstrecke dicht von Zuschauern gesäumt ist und das Abklatschen Hochkonjunktur hat. Und dann kommt auch schon nach 7 km der erste lange Anstieg, der sich gefühlt ewig hinzieht. Aber man ist ja noch frisch, da geht das alles schon. Die ganze Strecke ist insgesamt nicht leicht, es sind immerhin 485 Höhenmeter zu bewältigen.

Profil - 100 Km von Biel

Mittlerweile hat sich ein leicht kühlender Wind eingestellt, der die noch vorhandene Wärme wegbläst und ein wirklich sehr angenehmes Laufklima erzeugt. Die Kehrseite für eine Fotolauf besteht natürlich in der Dunkelheit, da sind nicht viele gescheite Bilder zu erwarten. Ein Foto mit Blitz lichtet nur den Vordergrund ab und der Rest ist schwarz. Und ohne Blitz hat man zwar mehr auf dem Bild, muss aber Unschärfe in Kauf nehmen. Da hat man die Qual der Wahl. Wir verlassen die Stadt und die Läuferschar zieht sich als Lichterkette durch die Landschaft. Und dann bekommen wir gleich mal einen Eindruck, was heute zuschauermäßig so zu erwarten ist. Mitten auf dem Feld stehen zwei Pavillonzelte mit Getränketresen sowie Sitzgelegenheiten und einer Vielzahl von Menschen, die uns frenetisch anfeuern. Das nenne ich Begeisterung.

Biel - Abklatschen hat Hochkonjunktur Begeisterung auf der Strecke

Die Stre­ckenführung ist perfekt ausgeschil­dert. An wichtigen Stellen stehen Hel­fer des Veranstalters sowie Mitarbeiter von Zivilschutz und Polizei und sorgen dafür, dass jeder den richtigen Weg nimmt und die Sicherheit der Teilnehmer ge­währleistet ist. Die erste größere Ortschaft ist Aarberg bei km 17. Es ist dreiviertel zwölf, als ich die be­rühmte 1567/68 er­baute Holzbrücke passiere, die beidsei­tig von Zuschauern flankiert ist. Hier ist auch der erste Fotopoint, der bei jedem Foto mit drei kräftigen Blitzen der Dunkelheit trotzt. 

Holzbrücke von Aarberg
Holzbrücke von Aarberg

Und auch der Marktplatz von Aar­berg ist gut von Zuschauern be­sucht. Auf der Strecke des 100er kann sich jeder Läufer von einem Fahrradfahrer begleiten lassen.

Marktplatz von Aarberg Verpflegungspunkt - hell beleuchtet
Marktplatz von Aarberg                                                                              Verpflegungspunkt von weithin sichtbar

In Lyss bei km 22 stoßen die Velos, wie die Fahrräder hier genannt wer­den, auf die Laufstrecke. Bis hierher sind sie auf einer alternativen Route unterwegs gewesen. Es geht wieder hinaus aus der Stadt in die Nacht. Nach einer Weile kündigen zwei riesige in der Dunkelheit  strahlende Scheinwerfer die nächste, nicht zu übersehende Verpflegungsstelle an. Es geht bisher fast ausnahmslos über asphaltierte Wege und Straßen oder in gutem Zu­stand befindliche Feldwege, die durch­weg alle gut zu laufen sind. Der Kreuzungs­bereich einer befahrenen Straße ist taghell erleuchtet und von der Polizei abgesichert. Schweizerische Perfektion in allen Belangen entlang der Strecke. Jetzt kommen schon mal ver­einzelt die Spitzenleute der Marathonstrecke, die eine halbe Stunde nach uns gestartet sind und überholen uns.

auf der Strecke

In Oberramsen bei km 38 zweigt die Marathonstrecke ab und auch hier ist eine der insgesamt 19 Verpflegungs­stellen an der Strecke.

Verpflegungsstelle bei Oberramsen traditionelles "Abstempeln" mitten im Wald
Verpflegungsstelle bei Oberramsen                                                             traditionelles „Abstempeln“ mitten im Wald

Das den 40. Laufkilometer anzeigende Schild ist da, ach, wenn doch nur bald Halbzeit wäre. Vor meinem geistigen Auge fangen jetzt an meine im Hotelzimmer befindlichen drei Büchsen Bier permanent zu kreisen. Und das bei immer noch 60 Restkilometern. Das wird hart wer­den, wenn das so weiter geht. Jetzt steht wieder ein Anstieg über gut 100 Höhenmeter an und da­nach geht es über gut 20 km leicht abwärts. Bisher habe ich nur selten auf meine Uhr geschaut und behalte das auch so bei. Erstens geht es auch nicht schneller und dann laufe ich sowieso lieber nach Gefühl. Und dann ist vielleicht das 50 km Schild überraschenderweise doch etwas früher da, als vermutet. Es geht durch einen Wald und mitten drin wieder eine taghell erleuchtete Stelle. Auch hier werden Traditionen gepflegt. Mitten im Zeitalter der elektronischen Zeiterfassung bekommt man hier, wie in alten Zeiten, einen Stempel auf die Startnummer ge­drückt.

Und dann ist es endlich da, das die Halbzeit anzeigende Schild mit der Aufschrift 50 km. Ziemlich unspektakulär mitten auf einem Feld. In Rüdtligen ist die nächste Wechselzone für die Staffelläufer und natürlich auch eine Verpflegungsstelle. Es ist mittlerweile 4 Uhr und trotzdem sind hier wieder jede Menge Leute präsent.

Rüdtlingen - 50km - die Hälfte ist geschafft!
Rüdtlingen – 50km – die Hälfte ist geschafft!

Unmittelbar nach den Wech­selstellen ist es für uns „Hunderter“ immer etwas demoralisierend, wenn die frischen Kurzstreckler von hinten auflaufen und zü­gig vorbei ziehen. Da geht dann schon mal das Lob einer mich überholenden Läuferin runter wie Öl, als sie mir beim Überholen sagt, dass sie  ziemlich lange ge­braucht hat, um an mich heran zu laufen. Ab hier müssen die Velos wieder die Laufstrecke verlassen, da es jetzt auf den ca. 8 km lan­gen Emmendamm geht, besser bekannt als Ho-Chi-Min-Pfad. Der hat alles das zu bieten, was ein Läufer weder unter normalen Verhältnissen und schon gar nicht im Dunkeln gebrauchen kann: holprige Grasnarbe, Wur­zeln sowie Steine in unterschiedlicher Häu­figkeit und Größe.

Emmendamm - besser bekannt als Ho-Chi-Minh-Pfad
Emmendamm – besser bekannt als Ho-Chi-Minh-Pfad

Wenn ich mich bisher sowieso schon gewun­dert habe, dass gar nicht wenige Läufer keinerlei Taschen- oder Stirnlampe da­bei ha­ben, dann hier nun erst recht. Die Gefahr eines Sturzes ist ohne Licht doch ganz be­trächtlich. Der Himmel hat sich in der Dunkelheit ganz un­bemerkt eingetrübt und gegen um fünf fängt es leicht an zu nieseln. Auch wenn das Grau der Wolkendecke recht bedrohlich aussieht, bleibt es bei ein paar Tropfen. Der kleine Schauer hat so­gar einen ganz positiven Effekt, denn die Ver­dunstungskühle des nassen As­phalts ist sehr angenehm. Seit einer geraumen Weile laufe ich mit Franz Ber­ger aus Ludwigsburg und seinem Fahrrad­begleiter zu­sammen.

KM 70 mit Franz Ber­ger aus Ludwigsburg und seinem Fahrrad­begleiter

Wir haben eine ganz angeregte Konversation und laufen ein recht zügi­ges Tempo. Zu flott, wie ich alsbald fest­stelle, sodass ich Franz erst mal laufen lassen muss. Km 70 errei­che ich gegen halb sechs, die Distanz des Rennsteiglaufes ist damit fast geschafft. Ein Läu­fer ist ge­rade dabei von sich und dem Schild ein Selfi zu machen. Die Dämmerung hat auch schon eine Weile eingesetzt, sodass jetzt langsam die Stirnlampen ausgeknipst werden kön­nen.

Bibern, km 77, ist gegen halb sieben erreicht. Trotz der frühen Stunde sind auch hier nicht we­nige Leute auf der Straße. Ab hier ist jetzt der letzte lange Anstieg zu bewälti­gen.

Bibern - Km 77
Bibern – Km 77

Wir müssen über den Berg um in das da­hinter liegende Tal zu kommen. Jetzt ist hier nichts mehr mit Laufen zu machen, es geht nur noch gehen. Bergab flutscht es natürlich gut, so­dass ich nach passieren des 80 km Schildes recht flotten  Schrittes die Verpflegungsstelle in Arch erreiche. Hier hat sich einer lang gemacht, der wohl unbedingt eine intensive Pause nötig hatte.

Km 80 Ruhepause

Ich stärke mich noch mal, wo­bei ich nach nunmehr neunstündi­gen Ver­zehr der über­wiegend süßen Verpflegung das bald alles nicht mehr sehen kann. Beim Renn­steig habe ich spätestens nach drei viertel der Strecke aber schon ganz sicher einen Becher stimulierendes Bier in­tus. Aber das ist hier Fehlanzeige. Nun sind es „nur“ noch knappe zwanzig Kilo­meter. Und die immer entlang des Nidau-Bü­ren-Kanals und somit ohne weitere Höhenme­ter. Der posi­tive Effekt des kleinen mor­gendli­chen Schauers zeigt sich jetzt immer noch ganz deut­lich. Der Himmel ist weitestge­hend zugezo­gen, was bei dem über­wiegend ungeschützt ver­laufen­den Weg sehr von Vorteil ist. Ich stelle mir lieber gar nicht erst vor, wie es wäre, jetzt noch gut zwei Stunden in der prallen Sonne laufen zu müssen.

auf der Rennstrecke

Aber so ist das na­türlich op­timal. Und jetzt ma­che ich ab und zu  etwas, was ich bisher vermieden habe: häufiger auf die Uhr schauen. Um unter 11 Stunden zu blei­ben, muss ich die restlichen Kilometer um die 6 Min. laufen. Aber ich merke auch ohne Uhr, dass es noch schön rund läuft und die Uhr bes­tätigt es mir auch. Die km-Zeiten liegen zwi­schen 5:45 und 6:00 min. und ich habe un­gefähr einen Zeitpuffer von 7 bis 8 min. bis auf 11 Stunden. An der letz­ten Verpfle­gungsstelle bei km 92 wird noch mal aufgetankt, die kleinen Steinchen aus den Schuhen ent­fernt und die Schirmmütze ins Wasser ge­taucht, um beim „Endspurt“ einen kühlen Kopf zu ha­ben. Und dann geht’s ab. Die Richtung ist nicht zu verfehlen.

Da geht's lang!

Die letzten Kilometer sind nun aber doch schon elend lang, insbesondere wenn man das nächste Schild so sehnsüchtig herbei wünscht. Aber dann stehe ich vor dem letzten Schild mit einer zweistelligen Zahl, nun brennt hier aber nichts mehr an.

Km 99 Zielzeit

Zum Schluss laufe ich ungewollt doch noch etwas schneller, da ich glaube einen Läufer aus meiner Alters­klasse überholt zu haben und damit der nicht wieder heran läuft. Aber es ist ein Staffelläufer, wie ich hinterher aus der Ergebnisliste erfahre. Unmittelbar vor dem Zieleinlauf geht es durch das Festzelt und dann habe ich das Ding nach 10:52:18 h im Kasten. Das Foto zeigt die aktuelle Uhrzeit. Franz Berger ist kurz vor mir ins Ziel eingelaufen, sodass wir uns gleich gemeinsam auf dem Finisher-Foto ablichten lassen.
Zielfoto mit Franz Berger

Ich bin mit meinem Ergebnis sehr zufrieden. Erstens ist es keine einfache Strecke, was ich schon 1990 feststellen musste, als ich mit 10:06 h die 10 Stunden nicht knacken konnte. Zweitens platziere ich mich in der M60 als 6. von 64 Finishern und drittens ist das Ergebnis altersbereinigt einer in den besten Jahren gelaufenen Zeit von knapp unter 9 Stunden äquivalent. Also lief es heute besser als 1990. Des Weiteren geht aus den Zwischenzeiten hervor, dass ich mich kontinuierlich von Platz 284 bei km 38 auf den 172 Platz im Ziel vorgearbeitet habe, was ja als ein Beleg für einen vernünftig eingeteilten Lauf anzusehen ist. Dann komme ich bei der Fahrt ins Hotel mit abnehmender Entfernung meinen drei Büchsen Bier endlich immer näher. Ja und dann – es ist einfach traumhaft, wenn man sich so lange darauf gefreut hat. Also, Bier ist schon nach einem Marathon ein Labsal, aber nach einem 100er der Wahnsinn. Wer das auch mal erleben will, ich kann Biel nur empfehlen!

Andreas Gelhaar
Laufgruppe Neue Linie
SG LVB Leipzig